Disruptive Technologie – Warum die meisten Innovationen scheitern, bevor sie stören

Die Stahlindustrie der 1960er Jahre hätte es besser wissen müssen. Kleine Elektrolichtbogenöfen produzierten minderwertigen Stahl aus Schrott, zwanzig Prozent günstiger als etablierte Hochöfen. Betonstahl, Baustahl, simple Produkte für Nischenmärkte. Die großen integrierten Stahlwerke lächelten, konzentrierten sich auf hochwertige Bleche und sahen keinen Grund zur Sorge. Dreißig Jahre später waren Bethlehem Steel und US Steel Geschichte, während Nucor mit genau dieser Mini-Mill-Technologie den Markt beherrschte.

Das Paradoxe: Beide Seiten handelten rational. Die Giganten wichen ins Hochpreissegment aus, weil Betonstahl nur sieben Prozent Marge brachte. Die Neulinge eroberten den unattraktiven Boden, verbesserten ihre Technologie und arbeiteten sich systematisch nach oben. Clayton Christensens Theorie der disruptiven Innovation beschreibt genau dieses Muster – und warum es sich endlos wiederholt.

Das Missverständnis vom großen Wurf

Disruption wird meistens falsch verstanden. Nicht die bahnbrechende Technologie stört etablierte Märkte, sondern die unscheinbare Alternative, die zunächst schlechter ist als das Bestehende. Netflix bot 2000 keinen sofortigen Filmgenuss wie Blockbuster, sondern Wartezeiten per Post. Desktop-Computer waren schwächer als Minicomputer. Toyotas Corona war ein billiges Blechauto für Menschen, die sich eigentlich kein Auto leisten konnten.

Der technologische Wettbewerbsvorteil liegt nicht in Features, sondern in Zugänglichkeit. Disruptive Technologie macht Produkte einfacher, günstiger und für mehr Menschen verfügbar. Sie demokratisiert Zugang, statt Leistung zu maximieren. Genau deshalb ignorieren Marktführer sie so konsequent – ihre Kunden verlangen das Gegenteil.

Warum rationale Entscheidungen zur Katastrophe führen

Blockbuster verdiente im Jahr 2000 über fünf Milliarden Dollar, achthundert Millionen allein durch Mahngebühren. Netflix war ein verlustreiches Start-up ohne erkennbare Zukunft. Die Ablehnung der fünfzig Millionen Dollar teuren Übernahme war finanziell vollkommen logisch. Zehn Jahre später war Blockbuster bankrott, Netflix über 197 Milliarden Dollar wert.

Etablierte Unternehmen scheitern nicht aus Dummheit, sondern aus Struktur. Ihre Prozesse sind darauf optimiert, bestehende Kunden glücklich zu machen. Investitionen in minderwertige Produkte für Nicht-Kunden widersprechen jeder Controlling-Logik. Controller rechnen vor, dass die Konzentration auf hochmargige Segmente den Shareholder Value steigert. Sie haben recht – bis der Markt verschwindet.

Die digitale Transformation scheitert meist an genau dieser Architektur. Hierarchien belohnen kurzfristige Optimierung, nicht langfristige Kannibalisierung. Innovationsprojekte verhungern, weil sie gegen das Kerngeschäft antreten müssen, statt eigene Wege zu gehen. Das ist kein Managementversagen, sondern systemisch.

Die drei Phasen des Scheiterns

Disruption folgt einem Drehbuch. Erste Phase: Eine neue Technologie bedient einen Markt, den niemand ernst nimmt. Blockbuster interessierte sich nicht für DVD-per-Post-Kunden. Integrierte Stahlwerke wollten keinen Betonstahl-Markt mit sieben Prozent Marge. General Motors und Ford bauten keine Kleinwagen für Menschen ohne nennenswertes Einkommen.

Zweite Phase: Die Technologie verbessert sich schneller als der Markt wächst. Mini-Mills konnten plötzlich Baustahl, dann Strukturstahl, schließlich Bleche produzieren. Netflix wechselte von DVD zu Streaming. Desktop-Computer erreichten die Rechenleistung von Minicomputern. Zu diesem Zeitpunkt bemerken Marktführer das Problem – können aber nicht mehr reagieren.

Dritte Phase: Strukturelle Unfähigkeit. Blockbuster versuchte einen eigenen Mail-Order-Service, konnte sich aber nicht von teuren Ladengeschäften lösen. Integrierte Stahlwerke installierten einzelne Mini-Mills, sabotierten sie aber intern, weil das Kerngeschäft Auslastung verlangte. Die Kannibalisierung des eigenen Erfolgs ist organisatorisch unmöglich.

Technologie-Hype ohne disruptives Potenzial

Die meisten als disruptiv beworbenen Innovationen sind es nicht. Blockchain galt jahrelang als Zerstörer zentraler Institutionen, bleibt aber eine Nischentechnologie für spezifische Anwendungsfälle. Warum? Sie macht bestehende Prozesse nicht einfacher oder günstiger für die breite Masse, sondern komplexer und teurer.

Echte Disruption folgt sechs Kriterien, die das Christensen Institute formuliert hat: Zielt sie auf Nicht-Kunden oder überbediente Segmente? Ist sie schlechter als das Bestehende nach klassischen Maßstäben? Einfacher, bequemer, günstiger? Hat sie eine technologische Basis für Verbesserung? Ein nachhaltiges Geschäftsmodell? Ignorieren etablierte Anbieter sie konsequent?

Wenn eine dieser Fragen mit Nein beantwortet wird, handelt es sich wahrscheinlich um sustaining innovation – eine Verbesserung des Bestehenden, die Marktführer problemlos übernehmen können. Hybridautos sind keine Disruption, sondern eine Kombination alter und neuer Technologie auf der gleichen Wettbewerbsachse. Jede neue iPhone-Generation verbessert das Vorherige, stört aber nichts.

KI als schleichende Verschiebung

Künstliche Intelligenz im Alltag wirkt zunächst wie typische Disruption. Sprachassistenten, Bilderkennungssysteme und automatisierte Übersetzungen bedienen Nicht-Kunden – Menschen ohne Programmierkenntnisse, ohne Designteam, ohne Übersetzungsbüro. Die Qualität liegt unter professionellen Standards, verbessert sich aber exponentiell.

Gleichzeitig bleibt unklar, ob KI etablierte Märkte wirklich verdrängt oder nur erweitert. Übersetzungsbüros verlieren Standardaufträge, gewinnen aber komplexe juristische oder literarische Projekte. Grafikdesigner verlieren Logo-Entwürfe, fokussieren sich auf Markenentwicklung. Das Muster ähnelt Disruption, könnte aber auch Marktdifferenzierung sein.

Entscheidend ist das Geschäftsmodell. Wenn KI-Anwendungen bestehende Dienstleistungen billiger und einfacher machen, ohne die Wertschöpfungskette zu verändern, bleiben sie sustaining. Wenn sie völlig neue Strukturen ermöglichen – etwa individuelle Lern-KIs statt Klassenzimmer – wird es disruptiv. Diese Unterscheidung entscheidet über Erfolg oder Scheitern der Reaktion.

Ressourcen, Prioritäten, Hierarchien

Innovationsprojekte sterben meist an internen Mechanismen. Zehn typische Gründe: fehlende Ressourcen, weil das Kerngeschäft Priorität hat. Falsche Ziele, weil Controller kurzfristige Rendite verlangen. Hierarchische Entscheidungen, die Risiko vermeiden. Fehlende Kundenorientierung, weil Produktentwicklung von Technik statt Bedarf getrieben wird. Mangelnde Konsequenz, weil Projekte bei Schwierigkeiten abgebrochen werden.

Weitere fünf: zu hohe Komplexität, weil Perfektion vor Markttest geht. Kulturelle Widerstände gegen Veränderung. Silodenken zwischen Abteilungen. Fehlende externe Perspektive durch Berater oder Partner. Und schließlich: Verwechslung von Innovation mit Disruption. Wer beide gleichsetzt, investiert in Verbesserungen statt in Alternativen.

Der Ausweg liegt nicht in besserem Management, sondern in struktureller Trennung. Disruptive Projekte brauchen eigene Budgets, eigene Ziele, eigene Kunden. Sie dürfen nicht gegen das Kerngeschäft konkurrieren, sondern müssen unabhängig wachsen. Das klingt trivial, widerspricht aber der DNA großer Organisationen fundamental.

Der blinde Fleck der Etablierten

Netflix und Blockbuster illustrieren das Kernproblem. Blockbuster hätte 2000 die Übernahme finanzieren können – fünfzig Millionen Dollar waren für ein Unternehmen mit fünf Milliarden Umsatz überschaubar. Aber das Geschäftsmodell passte nicht. Ladengeschäfte, Mahngebühren, sofortiger Zugriff – alles hätte Netflix sabotiert.

Selbst wenn Blockbuster einen eigenen Streaming-Dienst entwickelt hätte, wäre er intern blockiert worden. Verkaufszahlen in Geschäften hätten gelitten. Mahngebühren wären weggebrochen. Das Management hätte den neuen Dienst verlangsamt, verteuert oder mit Auflagen versehen, um das Kerngeschäft zu schützen. Netflix gewann nicht durch bessere Technologie, sondern durch organisatorische Freiheit.

Diese Dynamik wiederholt sich in jeder Branche. Taxiunternehmen hätten Apps entwickeln können, mussten aber Fahrzeugflotten schützen. Zeitungsverlage hätten Online-Modelle aufbauen können, mussten aber Druckauflagen verteidigen. Energiekonzerne hätten in Erneuerbare investieren können, mussten aber Kraftwerke auslasten.

Das Paradox der Vorhersehbarkeit

Disruption ist theoretisch identifizierbar, praktisch aber fast unmöglich zu verhindern. Die Muster sind bekannt. Die Kriterien klar. Dennoch scheitern Unternehmen systematisch daran, rechtzeitig zu reagieren. Der Grund liegt nicht in mangelndem Wissen, sondern in strukturellen Anreizen.

CEOs, die Disruption antizipieren und das Kerngeschäft kannibalisieren, werden entlassen. Controller, die in unprofitable Märkte investieren, verlieren ihre Budgets. Abteilungsleiter, die interne Konkurrenz fördern, werden als Störfaktoren wahrgenommen. Das System bestraft richtiges Handeln und belohnt optimierte Selbstzerstörung.

Es braucht keine bessere Theorie, sondern andere Strukturen. Organisationen müssten disruptive Einheiten wie Start-ups behandeln – mit eigenen Erfolgsmetriken, eigenem Zeithorizont, eigener Kultur. Das setzt voraus, dass Vorstände kurzfristige Gewinneinbußen akzeptieren. Dass Aufsichtsräte geduldiger werden. Dass Kapitalmärkte längerfristig denken. All das passiert selten.

Disruption scheitert nicht an fehlender Innovation, sondern an erfolgreicher Optimierung. Die meisten Technologien sterben, bevor sie stören können – nicht weil sie schlecht sind, sondern weil die Strukturen, die sie hervorbringen, sie gleichzeitig ersticken.

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